Die Bewerbungsprozesse ändern sich schon seit einiger Zeit und werden sich künftig noch weiter wandeln. Der demografische Wandel macht den Nachwuchs rar: Qualifizierte Mitarbeiter werden zur umkämpften Ressource. Das Vorstellungsgespräch in der Zukunft wird anders ablaufen. Die Macht liegt beim Bewerber. Lesen Sie hier, welchen neuen Herausforderungen sich die Personaler beim Auswahlprozess stellen müssen und wie viel Klarheit die neuen Verhältnisse den Bewerbern abverlangen.
Neue Anforderungen an Bewerber
Neuerdings werden Bewerber gesucht, die unbekannte Situationen bewältigen können. Das liegt an der Vielzahl von Angeboten auf dem Arbeitsmarkt. Das Paradigma hat sich damit gewandelt: Der Bewerber prüft möglicherweise stärker das Unternehmen als dieses ihn. Doch dieses muss ebenso ermessen, ob es eine Übereinstimmung beim Cultural Fit gibt, denn nach wie vor müssen Bewerber zu den Unternehmenswerten passen. Stellenweise wird schon gefragt, ob die Vorstellungsgespräche aussterben könnten. Das liegt allerdings weniger an der Übermacht der Bewerber, sondern eher am Einsatz der künstlichen Intelligenz in den modernen Recruiting-Tools. Diese könnten alsbald, so die These, das Kennenlernen im Vorstellungsgespräch durch Algorithmen ersetzen, welche einfach die Social-Media-Profile von potenziellen Mitarbeitern durchforsten, daraus detaillierte Profile von Bewerbern erstellen und somit die menschliche Instanz überflüssig machen. Doch es gibt auch gegenläufige Thesen.
Vielleicht wird umgekehrt das Vorstellungsgespräch wieder sehr viel menschlicher. Möglicherweise legen sogar einige Personalabteilungen die bekannten Verfahren und Tools wie Screenings, Assessment Center und Persönlichkeitsprofile ad acta, weil nur Menschen mit der derzeit sehr unklaren Situation auf dem Bewerber- und Einstellungsmarkt umgehen können. Teilweise ist das schon zu beobachten. Organisationen wie der Daimler-Konzern lassen die Schwarmintelligenz für sich arbeiten. Auch werden immer stärker Organisationsmodelle mit extrem flachen oder gar vollkommen fehlenden Hierarchien diskutiert. Das Verhältnis der Arbeitgeber zu ihren Bewerbern wandelt sich vor diesem Hintergrund. Die Firmen umgarnen wesentlich mehr als früher die Engpassressource Human Capital, denn begabte Mitarbeiter bereichern die Schwarmintelligenz und das Team mit flachen Hierarchien gleichermaßen. Bewerber erkennen diesen Trend. Sie nutzen immer stärker die Möglichkeit, nur noch dort zu arbeiten, wo ein echtes Wohlfühlklima herrscht. Eine “Musterung“ im Vorstellungsgespräch und Assessment Center wird immer weniger akzeptiert, denn hier geht es schließlich um Systemkonformität.
Bewerbungsvorgänge in agilen Unternehmen
Agile Organisationen haben ihre Einstellungsprozesse schon länger umgestellt. Diese laufen wie folgt ab:
- Die Bewerber werden auf attraktive Weise ins Unternehmen eingeladen. Bei innovationsträchtigen Projekten sprechen die Firmen diese Einladung weltweit aus.
- Der nachfolgende Eindruck vom Unternehmen hält der ersten Einladung stand. Das Vorstellungsgespräch folgt pünktlich nach wenigen Tagen des ersten Kontakts. Ansonsten schauen sich qualifizierte Bewerber woanders um.
- Die Bewerbungsgespräche führen nicht Personalchefs oder Vorgesetzte, sondern operative Teammitglieder durch – sozusagen von Kollege zu Kollege. Die Teams stellen ihr Personal selbstständig ein. Sie suchen sich ihrer Verstärkung eigenständig aus.
- Bewerbungsgespräche finden daher oftmals in Gruppen statt. Natürlich haben auch diese Unternehmen noch eine HR-Abteilung, doch diese soll nur noch passende Kandidaten zu einer Bewerbung animieren. Nach dem Vorstellungsgespräch wickelt sie bei Eignung die Vertragsmodalitäten ab. Über die endgültige Eignung befindet das Team nach der Probezeit.
Was steckt hinter dem neuen Einstellungsprozess?
Diese Art des Prozesses bedeutet gegenüber dem Bewerber einen Vertrauensvorschuss statt einer Überprüfung. Um Letztere ging es bei traditionellen Bewerbungsgesprächen stets: Gecheckt wurden Hard- und Soft-Skills der Bewerber und der Cultural Fit. Das fundamentale Paradigma lautete, dass ein Unternehmen sich seine Mitarbeiter aussuchen muss. Dieses Fundament wackelt. Heute suchen sich die Bewerber eher das Unternehmen aus. Agile Organisationen gewähren daher den Bewerbern einen Vertrauensvorschuss. Sollten sich diese für befähigt halten, die anstehenden Aufgaben auszuführen, dann möge man daran glauben, dass sie es auch können.
Übernahme der neuen Philosophie aus dem Job Enlargement
Dass sich die neue Philosophie des Einstellungsprozesses zumindest in agilen Organisationen so schnell durchsetzen kann, liegt auch an ihrer Entwicklung im schon länger praktizierten Job Enlargement. Bei dieser Arbeitserweiterung wechseln Mitarbeiter auf andere Positionen. Sie sollen dabei ihren Horizont erweitern und nötigenfalls andere und erweiterte Aufgaben übernehmen können. Auch das Job Enlargement, das einen gewissen Organisationsaufwand erfordert, setzt Vertrauen gegenüber den Mitarbeitern voraus. Die Unternehmen wurden durch solche Maßnahmen schon in der Vergangenheit flexibler bei ihrem HR-Management. Das kommt ihnen nun in Zeiten des Arbeitskräftemangels zugute.
Wie könnte das Vorstellungsgespräch in Zukunft tatsächlich ablaufen?
Eine kühne Prognose lautet, dass die Unternehmen es den Bewerbern überlassen, über ihre Einstellung zu entscheiden. Wenn sie sich die Arbeitsaufgabe zutrauen, mögen sie die Stelle bekommen. Allerdings ist das eine modellhafte und plakative Skizze einer sich abzeichnenden Tendenz: Bewerber haben deutlich mehr Mitspracherechte beim Einstellungsprozess. Sie sind nicht länger bloße Bittsteller. Dennoch werden kluge Personalchefs darauf bestehen, dass sie das letzte Wort bei der Einstellung haben. Ein Unternehmen kann in Wahrheit natürlich nicht gänzlich dem Bewerber überlassen, ob er die Stelle antritt.